Lackmustest Corona: Wie resilient ist das System gegenüber COVID-19?
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COVID-19 als Richtungsweiser in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, gelten in Deutschland mindestens bis Ostern weitreichende Restriktionen im öffentlichen Gemeinwesen. Erst danach könne gemäß aktueller Lageeinschätzung von Bundesgesundheitsminister Spahn eine Lockerung der Maßnahmen forciert werden.
Aber wie lang können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dem Shutdown standhalten, ohne dass das etablierte Gefüge dauerhaften Schaden annimmt? Oder ist ein solcher sogar zu begrüßen, um ein neues System etablieren zu können, wie manche Stimmen kommentieren? Wie ist ein handlungsfähiger Staat in der Krise abzuwägen gegenüber weitreichenden Einschränkungen fundamentaler Grundrechte?
Wir haben einige kritische Meinungsbilder gesammelt, die mahnen, aber auch Mut machen.
1. Politische Entscheidungsfindungen im Schnellverfahren mit Durchschlagkraft
Fundamentale Änderungen im Infektionsschutzgesetz, weitreichende Einschränkungen nahezu sämtlicher bürgerlichen Grundrechte sowie grundlegende kurzfristige Aushebelungen im Zivil- und Isolvenzrecht. Politische Konsensfindung in Zeiten von Corona scheint effizienter wie nie zuvor. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass dabei die Formel "ohne Zustimmung des Bundesrats" ein entscheidender Hebel ist, der Gesetzgebungsverfahren deutlich verkürzt bzw. grundsätzlich in die Autorität des Bundes legt. So verzichteten die Länder auf Ausschussberatungen und alle sechs Teilgesetze, die den enormen Nachtragshaushalt der Bundesregierung erfordern, wurden ohne Aussprache verabschiedet. Keine Kleinigkeit, bedenkt man die historische Tragweite der Entscheidungen in vielerlei Hinsicht:
- Die schwarze Null ist Geschichte: Die Maßnahmen des Corona-Schutzschirm verursachen eine Staatsneuverschuldung in Höhe von 156 Milliarden Euro.
- Starker Staat in der Krise: Mit den Änderungen im IfSG verlagern sich föderale Kompetenzen deutlich: „Die Bundesregierung wird zur Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ermächtigt.“
- Ausgangssperren werden möglich: Die Neufassung von § 28 IfSG wird konkreter und ermächtigt Landesbehörden dazu Ausgangssperren zu erteilen. So kann die zuständige Behörde künftig "insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten." Damit werden "die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) insoweit eingeschränkt." (vgl. § 28 alt und neu auf buzer.de)
- Zivil- und Insolvenzrecht: Zeitlich befristete Regelungen im neuen Art. 240 EGBGB gestatten Verbrauchern und Unternehmern ein außerordentliches Leistungsverweigerungsrecht für wesentliche Dauerschuldverhältnisse. Es gilt außerdem eine vorübergehende Möglichkeit zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht.
- Änderung der Geschäftsordnung: Der Bundestag ist bereits beschlussfähig, wenn mehr als ein Viertel seiner Mitglieder anwesend sind. Bislang galt die Beschlussfähigkeit erst dann als gegeben, wenn mehr als die Hälfte aller Mitglieder anwesend sind (§ 45 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Bundestages, GOBT). Die neue Regelung gilt vorerst bis zum 30. September 2020.
Die Demokratie zeige sich auch in Krisenzeiten beschlussfähig, bilanzierte Verfassungsblog bereits im Vorfeld der Beschlussfassung beispielhaft zu den Änderungen im IfSG. Vieles sei "verständlicherweise", aber "mit heißer Nadel gestrickt". Wichtig zu beobachten wird sein, welches Ergebnis die Evaluation der Maßnahmen nach Abschwung der Pandemie erbringen wird und ob die aktuelle parlamentarische Entscheidungsfindung auf das Wirken in Krisenzeiten beschränkt bleibe. Dies beobachtet fortlaufend auch die Gesellschaft für Freiheitsrechte.
2. Unternehmer-Test: Warum die "egoistische Konnotation" dennoch ausgespielt wird
"Unternehmen können ebenfalls unkonventionelle Wege gehen und dazu beitragen, dass wirtschaftlicher Erfolg seine egoistische Konnotation verliert." - Matthias Hesselmann, Vorstand der Fischer-Appelt AG erinnert an unternehmerische Eigenschaften wie Fürsorge, Umsicht und Weitblick. In einem W&V Gastbeitrag vom 16. März 2020 schildert er daher vermehrt die Chancen, die aus einem gemeinsamen Zusammenhalt aller Stakeholder entstehen könnten.
Andere Stimmen sind weit weniger optimistisch in ihrer Einschätzung insbesondere der internationalen Wirtschaftsbeziehungen: "If something with a relatively low mortality rate like the coronavirus — between one percent and four percent, compared to 50 percent for Ebola — can do such a number on the global economy, perhaps the patient was already suffering from some pretty dire underlying conditions." konstatierte John Feffer für RESPONSIBLE STATECRAFT am 13. März 2020.
A little schadenfreude sei laut Feffer unter Ökonomen bereits erkennbar und verweist auf den Beitrag von Kenneth Rapooza für Forbes, der Anfang März nüchtern den "final curtain on China’s nearly 30 year role as the world’s leading manufacturer" zog.
3. Selbstverantwortung und Gemeinsinn: Welcher Solidargemeinschaft wollen wir angehören?
Pluralismus leben: "Die Kontrolle über das Virus zu erlangen, bedeutet meines Erachtens auch, wieder Kontrolle über unsere Gedanken und unser Wertesystem zu erlangen. Die zwei Wochen des „shut down“ sollten dafür genutzt werden, fachübergreifend unter Jurist*innen, Ökonom*innen, Soziolog*innen und anderen alternative Wege ernsthaft zu diskutieren. Wir brauchen einen offenen Diskurs." sagt die Juristin Jessica Hamed im Interview mit der Frankfurter Rundschau am 27. März 2020. Und tatsächlich ist die Frage legitim, warum das Krisenkomitee der Bundesregierung nahezu ausschließlich in Gestalt von Virologen und Volksvertretern in Erscheinung tritt, wenn die eingesetzten Maßnahmen alle Bereiche des Zusammenlebens in einer Gesellschaft umfassen und grundlegend verändern.
Corona als "Masternarrativ für Europa"?: Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschäftigt sich in einem Beitrag in "Blätter für deutsche und internationale Politik" mit Fragen der Identität und Zugehörigkeit aus polit- und kulturhistorischer Perspektive. Assmanns Ausführungen zum Ursprung und Werden der Europäischen Union und den teils widerstrebenden Wahrnehmungen einzelner Mitgliedsstaaten, was diese Gemeinschaft konkret bedeutet, hilft das derzeitge Krisenmanagement der EU und ihrer Vertreter in einem komplexen Zusammenhang einzuschätzen. Innereuropäische Kooperationen in Bezug auf medizinische Rettungsmaßnahmen oder funktionierende Luftbrücken demonstrieren den Zusammenhalt der Nationen bereits deutlich. Der Streit um Grenzschließungen oder Corona-Bonds prüft das Prinzip der Solidarität jedoch gleichbleibend hart.
Corona als Bifurkation?: Matthias Horx regnostiziert die Welt nach Corona, als sei eine Infektion mit dem Virus das Beste, was der Welt passieren konnte. Eine Intensivierung sozialer Bindungen trotz oder gerade wegen Social Distancing, ein Vertrauensgewinn in die Politik, die "gerade weil sie »autoritär« handeln musste (..) Vertrauen ins Gesellschaftliche" schuf. Ob Horx mit dieser Meinung richtig liegen wird, ist nahezu ideal in Zeiten des Corona-ShutDown am Selbstexperiment zu prüfen. Dafür müsse man sich laut Horx innerlich mit der Zukunft in Verbindung setzen, wodurch eine Brücke zwischen Heute und Morgen entstünde, das "Future Mind" oder die "Zukunfts-Bewusstheit". Wer dieses Experiment in Zeiten von Social Distancing richtig mache, entwickelt womoglich ähnliche Schlussfolgerungen wie Horx oder gänzlich andere, denn schließlich komme es darauf an "die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren." - diese sind jedoch bekantermaßen individuell und daher sehr verschieden.
Maßlos enttäuscht bzw. aufgeklärt: "Die Corona-Krise ist auch die Zeit der selbsternannten Zukunftsforscher", stellte zuletzt der Kunsttheoretiker Bazon Brock für WELT (nicht barrierefrei) fest und bringt seine Gedanken zu physischen und virtuellen Realitäten auf einen amüsanten Nenner. Brock nennt Horx kurzerhand einen CEO Komplexius, der offenbar "dreist genug ist, seine Ahnungslosigkeit als Tiefsinn darzustellen" und demzufolge Sachverhalte als „sehr komplex“ bezeichnete. Brock erinnert an einen aufgeklärten Geist, der die Fähigkeit haben müsse, "Enttäuschung zu ertragen", denn das wiederum verlangte das Wesen der Aufklärung, das keinen "Wechsel dogmatischer Verbindlichkeiten, Renegatentum oder Bekehrungsglück" anstrebte, sondern prinizipiell in Frage stellte.
"Maßlos enttäuscht" bzw. darüber aufgeklärt zu sein, ist laut Brock in der aktuellen Corona-Krise durchaus angebracht:
"Wir sind alle maßlos enttäuscht,
dass das angeblich so himmelhoch reiche und wohl organisierte Deutschland, noch vor fünfzig Jahren die Apotheke der Welt, keinen einzigen Grundstoff oder keine Weiterverarbeitungskapazität für Antibiotika besitzt, ja nicht einmal die offensichtlichste Behauptung zu stützen vermag, man sei auf der primitivsten Ebene für Eventualfälle von Epidemien und Pandemien gerüstet, weil man entsprechend viel Schutzkleidung vorrätig halte."
"Wir sind alle maßlos enttäuscht,
dass der angebliche Riesenerfolg der Globalisierung zu einem weltweiten Zusammenbruch der Wirtschaft führte, schon wieder führt, und wieder keiner der Verantwortlichen für diese erwartbare Fehlkonstruktion haftbar gemacht wird (..)"
"Wir sind alle maßlos enttäuscht, also darüber aufgeklärt,
dass Großmächtige der Ersten Welt vor vierzig Jahren glaubten, dem armen, machtlosen China die Drecksarbeit im Billiglohnbereich aufoktroyieren zu dürfen, ohne Verstand genug zu haben, den Aufstieg Chinas zur Weltführungsmacht zu antizipieren. Von allen anderen Machtmitteln abgesehen, reicht Chinas absolute Vorherrschaft bei der Antibiotika-Produktion aus, uns Europäer beliebig erpressbar werden zu lassen."
...in diesem Sinne: Bleib Gesund!
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